Das St.-Johannis-Missale im Göttinger Stadtarchiv – ein mittelalterlicher Schatz aus Hardegsen?

Geburtsszene

In der Weihnachtsausgabe des Göttinger Tageblattes vom 24. Dezember 2004 fand sich ein farbiges Titelfoto mit Darstellung der Geburtsszene aus der Weihnachtsgeschichte nach Lukas 2 (Maria mit dem Kind, dahinter Ochs und Esel). Die Miniatur ist auf Goldgrund gemalt und eingebettet im runden Innenteil des Großbuchstabens P. Dies ist der Anfangsbuchstabe des Textes „Puer natus est nobis“ (Ein Kind ist uns geboren) nach Jesaja 9. Er fungiert als Introitus der Hohen Messe zum Weihnachtsfest.

Die Bildvorlage befindet sich in einem mittelalterlichen Missale, das im Göttinger Stadtarchiv unter der Bezeichnung St.-Johannis-Missale als eines seiner bedeutenden Schätze aufbewahrt wird. Ein Missale (Messbuch) ist das kirchenamtliche Textbuch des zelebrierenden Priesters für die Heilige Messe (lat. missa). Entwickelt im Hochmittelalter, vereinigt das Missale die Einzelbücher Sakramentar (Gebetssammlung), Lektionar (liturgisches Buch, mit den bei der Messe vorzutragenden Abschnitten der Heiligen Schrift) und Graduale (Choralbuch) zu einem liturgischen Werk, in dem alle Messtexte enthalten sind.

In der Bildunterschrift zum Titelfoto im Tageblatt erklärte der Göttinger Stadtarchivar und Museumsdirektor Dr. Ernst Böhme „Die Kirche in Hardegsen hat das Missale damals anfertigen lassen“. Später sei das Werk, dessen Verfasser unbekannt ist, im Wege einer Schenkung nach Göttingen in die St.-Johannis-Kirche gekommen.

Dieser Bemerkung bin ich nachgegangen. Bei Recherchen im Göttinger Stadtarchiv fand ich Folgendes vor:

Das Missale

Sign. III 9, Missale aus der Kirche St. Johannis in Göttingen, 15. Jahrhundert

Format: 37,5 x 29 cm
Einband: Holzdeckel mit weißem gepresstem Leder überzogen, mit Ecken, Buckeln, Rosetten und Schliessen von Messing, dazu Blattzeiger und Lesezeichen von Leder
Material: Pergament
Umfang: 324 Blatt
Restauriert: 1984 Stadtarchiv Göttingen

Der Text ist zweispaltig geschrieben. Bl. 5-140, 157-233 mit fortlaufender alter Zählung, Lücken nach Bl. 246 und 316, rote und blaue Initialen (Bl. 141-156 und 317-320 nur rote Initialen), rote Rubriken zur Orientierung und Gliederung der Abschnitte.

Das Messbuch enthält einige reich verzierte Miniaturen auf Goldgrund: 

Bl. 5 Advent: Zelebrierender Priester mit Ministrant

Bl. 18b Weihnachten: Geburtsszene, Maria mit Kind (siehe oben)

Bl. 109b Ostern: Auferstehungsszene, Christus mit Siegesfahne entsteigt dem Grab

Bl. 129 Pfingsten: Drache mit Laubblatt im Mund und Drolerie

Bl. 152 in dem eingesetzten Canon ist ein früher aufgenähtes Bild herausgenommen, verzierte Initiale “T” zu Te igitur.

Bl. 154b auf einem angenähten Lederstück (6 x 5 cm) Veronica mit dem Schweißtuch

Bl. 161b Blattornamente, verzierte Initiale “T” zu Te igitur

Bl. 161b Kanonbild: Christus am Kreuz.

Das Missale weist zahlreiche Sequenzen, Hymnen und liturgische Gesänge auf. Diese sind in mittelalterlicher Hufnagel-Notation auf vier Linien gesetzt, von denen eine rot (Ton f) und eine gelb (Ton c) ist.

Das Messbuch spiegelt die umfangreiche gottesdienstliche Praxis im 14. und 15. Jahrhundert wieder. So finden sich allein zum Weihnachtsfest vier Messfeiern unterschiedlicher Art:

Bl. 15a - 15b In vigilia Nativitatis (Zur Nachtwache der Christgeburt)

Bl. 15b - 17b In galli cantu (Beim Hahnenschrei, nächtlicher Frühgottesdienst)

Bl. 17b - 18b In ortu diei misse (Messe bei Tagesanbruch)

Bl. 18b - 19b Ad summam missam (Zur Hohen Messe)

Stiftungsurkunden

Auf leeren Blättern des Missale finden sich drei Urkunden in mittel-niederdeutscher Sprache:

Blatt 1b aus dem Jahr 1400, Bl. 322b von 1468; Bl. 323a von 1458. Sie dokumentieren mittel-alterliche Stiftungen zum Totengedenken.

Die Urkunde auf Blatt 1b ist aus Hardegser Sicht besonders interessant und beachtenswert. Sie ist ausgestellt von zwei „elder alderlude unde vormunden des gebuwens der kerken to sinte Johanse to gothingen“ (Ältere, Älterleute und Vorsteher des Gebäudes der Kirche St. Johannis zu Göttingen) betreffend Vermächtnisse und dafür zu leistende Seelmessen: Für 30 Mark Göttinger Währung hat die St.-Johannis-Kirche Göttingen insbesondere „eyn missebok“– etwa das Vorliegende? – „und eynen kelk von hern Wernhere von herdegessen prestere“ gekauft. Abgefasst ist diese Urkunde „na godis gebort unses heren veerteynhundert Jar an sinte urbanus daghe“ (im Jahre 1400, am Tag des heiligen Urbanus, dem 25. Mai).

Abschrift der Stiftungsurkunde vom 25. Mai 1400 (mittel-niederdeutsch):

We Herman von Echte Hans von Hevenshusen de elder alderlude unde vormunden des gebuwens der kerken to sinte Johanse to gothingen Bekennen openbar indussen breve von unser und von unser nakomelige weghen dat we hebben vor kofft und vorkopen in dusse breve vif ewige ferdinge gheldis gott were vor dr[itl]ich mark der sulve were de uns hans von Waken de elder wol betald heft und de we in unses vorgenanten godshus nut unde vromen gekort und gewont hebben. Und sunderliken darmede ghekofft hebbet eyn missebok und eynen kelk von hern Wernhere von herdegessen prestere. Und dusse vorgüte vif ferdinge rede we und loven von unser und von unser nakomelige weghen alle Jar ut to gevende to eyme ewigen testamente und selegherede also Hans von Waken de elder vorgenannt in unse godeshus gemaket hefft alle Jar to vertyden Jo to der tijd einen ferding alse hirna gescreven steyt. To dem ersten to sente Bartholomeus daghe. Tho sente Clemens daghe. To sente Peters daghe de da hetet kathed[ra] sancti petri. Und uppe sente Urbanus dage. Jo to der tijd sculle we und willen gheven des avendes to der vigilie [de]me pernere eynen schilling twey synen kappelanen so eyme neghen penninge. Twen altaristen in der Capellen sunte Antonius in der kerken dasulves to sinte Johanse jo eyme neghen penninge. Twen altariste de da horen in de Capellen sinte thomas de da ghelegen is in der kerken to sinte Jacobe by deme pylere des tornes Jo den altaristen de da komen to der vigilie neghen penninge Twen aldermannen to sinte Johanse. Jo deme aldermanne neghen penninge dar umme dat se andechtig sin des vorgescreven testamentes achte scolern Jo dem scolere Twene penninge den opperluden dem groten ver penninge syneme scoler Twene penninge. Und to dussen ver tyden schole we kopen twey punt wasses und schullen dar von laten maken veer lecht to der vigilie und to der selemisse gebrant und de scalmen halden in der capellen to sinte Johanse. Und de lecht scalme denne setsen uppe den engel in der vorgenannten capellen sinte antonius. Und hat hin vort mer overblivet dar sculle we und wullet wy bey oppern to den twen selemissen. alle dusse vorgescrevenen stucke und artekele rede we und lonen von unser und unser nakomelinge weghen stede und gantz to holdende ane arglist und gheverde unde geven dez dussen breff versegelt mit unsis godeshus Ingesegele na godis gebort unses heren veerteynhundert Jar an sinte urbanus daghe des hilgen pavestes und mertelers.

(Undeutliche Buchstaben sind in eckige Klammern gesetzt.)

Transkription: Karen Thöle, Magistra artium der Musikwissenschaft und der Geschichte, Göttingen;

mit Ergänzungen von Dr. Sabine Wehking, Akademie der Wissenschaften der Universität Göttingen, Inschriftenkommission.

Abschrift der Stiftungsurkunde (hochdeutsche Übersetzung):

Wir, Hermann von Echte, Hans von Hevenshusen (Anm.: Hevensen) der Ältere, Älterleute und Vorsteher des Gebäudes der Kirche St. Johannis zu Göttingen, bekennen öffentlich in diesem Brief für uns und unsere Nachkommen, dass wir in diesem Brief verkauft haben und verkaufen fünf ewige Ferding Geldes Göttinger Währung für dreißig Mark derselben Währung, die uns Hans von Waake der Ältere richtig bezahlt hat und die wir zum Nutzen unseres Gotteshauses ausersehen und verwandt haben und damit besonders ein Messbuch und einen Kelch gekauft haben von dem Priester Herrn Werner von Hardegsen. Und diese vorgenannten fünf Ferding versprechen und geloben wir für uns und unsere Nachkommen alle Jahre auszugeben für ein ewiges Vermächtnis und Seelengerät, wie es der vorgenannte Hans von Waake der Ältere in unserem Gotteshaus getan hat viermal im Jahr, jedesmal einen Ferding, wie es im folgenden beschrieben ist: zunächst am Tag des heiligen Bartholomäus, am Tag des heiligen Clemens, am Tag des heiligen Petrus, der da heißt Petri Kettenfeier, und am Tag des heiligen Urbanus. Jedes Mal sollen und wollen wir am Abend der Vigil (Anm.: Feier am Vorabend des Festtags) dem Pfarrer einen Schilling geben, zwei seiner Kapläne jedem neun Pfennige, zwei Altaristen in der Kapelle St. Antonius in der Kirche daselbst zu St. Johannis jedem neun Pfennige; zwei Altaristen die zu der Kapelle St. Thomas gehören, die in der Kirche St. Jakobi bei dem Turmpfeiler gelegen ist, jedem Altaristen, der zu der Vigil kommt, neun Pfennige, zwei Älterleuten (Anm.: Kirchenvorstehern) von St. Johannis, jedem Ältermann neun Pfennige, dafür dass sie im Sinne des genannten Vermächtnisses Andacht halten; Schülern: jedem Schüler zwei Pfennige; den Küstern: dem großen vier Pfennige, seinem Schüler zwei Pfennige. Und zu diesen vier Tagen sollen wir zwei Pfund Wachs kaufen und sollen davon vier Lichter (Anm.: Kerzen) machen lassen für die Vigil und [sie sollen] zu der Seelenmesse angezündet werden und die [Seelenmesse] soll man halten in der Kapelle von St. Johannis. Und die Lichter soll man dann auf den Engel (Anm.: Leuchterfigur) in der vorgenannten Kapelle St. Antonius setzen. Und was hiervon übrigbleibt, das sollen und wollen wir stiften zu den zwei Seelenmessen. All diese im Vorangehenden beschriebenen Stücke und Artikel versprechen und geloben wir für uns und unsere Nachkommen stetig und ganz zu halten ohne Arglist und Gefährdung und geben dazu diesen Brief gesiegelt mit dem Siegel unserer Kirche nach Gottes unseres Herrn Geburt vierzehnhundert Jahre am Tag des heiligen Urbanus, des heiligen Papstes und Märtyrers.

Übersetzung: Dr. Sabine Wehking

Kommentar zur Stiftungsurkunde

Bei diesem Text, der auf einer der ersten Seiten des sog. Göttinger St.-Johannis-Missale eingetragen ist, handelt es sich um die Stiftung eines Hans von Waake, ein so genanntes „Seelgeräte“, das im Jahre 1400 n.Chr. von zwei „Alderleuten“ der Göttinger Kirche St. Johannis urkundlich bestätigt wurde. Es war im späten Mittelalter üblich, einen Teil seines Erbes einer Kirche zu stiften, damit diese im Angedenken an den Verstorbenen eine testamentarisch festgelegte Anzahl von Messen las. In diesem Fall sollen jährlich an vier Heiligenfesten Messen gelesen werden. Detailliert wird aufgelistet, wer daran mitwirken und wie viel Geld jeder bekommen soll, auch, dass jeweils eine große Kerze angefertigt werden soll. Die beiden Alderleute protokollieren zunächst den Empfang des Geldes, das die Grundlage dieser Stiftung dient, und im Zusammenhang damit, dass der Stifter von einem Priester in Hardegsen ein Messbuch und einen Kelch gekauft habe – Dinge, deren materieller Wert dem von Hans von Waake gestifteten Geld hinzugerechnet werden muss, aber auch Gegenstände, die in den gestifteten Messen wohl auch zur Verwendung kamen.

Die Urkunde, die als Teil des Missales erhalten geblieben ist, ist nicht das Original. Am Schluss wird vom Siegel der Kirche gesprochen, das im Buch jedoch fehlt. Es handelt sich hier also nicht darum, dass das kostbare Pergament einer freigebliebenen Seite von sparsamen Schreibern einer anderen Verwendung zugeführt worden wäre. Die Position einer solchen Abschrift in einem liturgischen Buch hat vielmehr etwas mit dem Gebetsgedenken zu tun, für das eine fromme Stiftung ja gedacht ist. Es könnte natürlich sein, dass der Text der Stiftungsurkunde zufällig in eines von mehreren liturgischen Büchern der Kirche St. Johannis eingetragen wurde, um die Pflichten, die mit der Stiftung verbunden waren, nicht zu vergessen.

In diesem Fall wären aber noch weitere Urkundentexte oder zumindest die Namen von weiteren Stiftern in diesem Buch zu erwarten gewesen, da Hans von Waake sicherlich nicht die einzige Person war, die der Kirche St. Johannis im Spätmittelalter etwas zukommen ließ. Da diese Urkunde die einzige im ganzen Buch aus dieser frühen Zeit ist, ist anzunehmen, dass hier auf den Stifter des Buches verwiesen werden sollte - im Mittelalter war es durchaus üblich, dass Name oder Bild des Stifters am gestifteten Gegenstand angebracht war.

Es handelt sich bei dem Göttinger St.-Johannis-Missale also mit großer Wahrscheinlichkeit um das in der Urkunde genannte, von einem Priester aus Hardegsen gekaufte Messbuch. Allerdings geht aus dem Text der Urkunde nicht hervor, ob das Messbuch speziell für den Käufer angefertigt wurde, oder ob Hans von Waake ein Messbuch kaufte, das bereits in Hardegsen in Benutzung gewesen war. Entscheiden ließe sich das durch eine Untersuchung des Calendars, in dem die Heiligenfeste verzeichnet sind, und des Teils des Buches, das die Heiligenmessen enthält: Welche Bedeutung haben die Patrone der Kirche St. Mauritius in Hardegsen, und welche die Patrone der Kirche St. Johannes in Göttingen? In welcher Beziehung dazu stehen die Neueinträge und Streichungen, die sich an manchen Stellen des Buches befinden? Sind sie eventuell ein Versuch, das Messbuch an die liturgischen Bedürfnisse der Göttinger Kirche anzupassen?
 

Karen Thöle

Das Missale und die darin enthaltene Urkunde aus dem Jahr 1400 erlauben folgende Annahmen:

  • Die Priesterschaft bzw. die Hardegser Kirche war im Besitz kostbaren Messzubehörs (Missale, Abendmahlskelch).
  • Wenn sie sich dessen Veräußerung leisten konnte, müssen solche Gegenstände mindestens zweifach vorhanden gewesen sein, um die Messe weiterhin regelmäßig ausführen zu können.
  • Nach dem Tod Otto des Quaden (gest. 13. Dez. 1394) gab es zur Zeit der Herzogin Margarete (gest. 1442) einen (geistlichen) Austausch zwischen Hardegsen und Göttingen.

 

Gerhard Ropeter

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